Texte - Reportagen - Kurzgeschichten

geschrieben 2006


Haut am Rande der Wüste

Sie schrie jetzt schon seit einer halben Stunde ununterbrochen. Es war ihre Waffe, ihre einzige. Wie ein scharfes Messer drang durch die dünnen, gekalkten Wände aus Betonsteinen. Sie wurde von ihnen multipliziert.

Ich hatte mich in das Schlafzimmer der Mädchen zurückgezogen, in dem sie ein Bett für mich freigeräumt hatten. Alle waren sie sehr gastfeundlich. Ich drückte die Kippe aus und steckte mir gleich noch eine an.

Mir fiel nichts ein, es war hoffnungslos. Der Kopf und die Ohren taten mir weh von dem Geschrei. Gelegentlich wurde es durch ärgerlich-beschwichtigendes Murmeln des Vaters unterbrochen. Und durch den müden aber unentrinnbaren Befehlston der Mutter. Sie wiederholte beständig ein Wort : "Elbis!" Aber Yafa schrie weiter und tobte mit allem was sie hatte.

Es war ein schöner Hochsommertag, die Sonne tauchte den Olivengarten in mildes Abendlicht, eine leichte Brise wehte von der Wüste herüber. 1996, Ich war zu Besuch bei der Familie meines Freundes, einer relativ liberale Familie in der Westbank, Palästina.

Ich versuchte einen neuen Anlauf und setzte mich in das Frauen- und Familienzimmer zu der kreischen den und tobenden Yafa und den Eltern. Yafa war vier. Die Eltern versuchten ihr Kleidungsstücke anzuziehen, wie man jemand in eine Zwangsjacke steckt, aber Jafa riss sie sich sofort wieder vom Leib. "Elbis!" Das heisst "Zieh dich an!" - etwas arabisch konnte ich mittlerweile.

In mäßigem englisch versuchte ich den Eltern meine Einschätzung der Lage zu erklären: Sie möchte ohne die lästigen Kleider herumtoben, laßt sie doch einfach - LEBEN! Sie ist ein MENSCH!

Freundlich aber bestimmt antworteten sie, daß es völlig unmöglich sei. Dann versuchten die älteren Geschwister, sie zu bändigen, ohne Erfolg.

Ich sah MICH in dem vierjährigen Mädchen, das sonst sehr lieb und aufgeweckt war. Meine Mutter hatte mich früher ständig zu stillsitzen in ekelhaften Kleidungsstücken gezwungen. Aber immerhin war sie gelegentlich mit mir schwimmen gegangen. Und ich durfte auch mal im Garten nur im Schlüpfer rumlaufen. Schwimmbäder gab es hier natürlich überhaupt nicht. Das lag nicht nur an den Siedlern, die das meiste Wasser aus dem Boden zogen.

Naiv hatte ich meinen Freund gefragt, ob es hier so etwas wie Jugendzentren gäbe. "Nichts" sagte er, wir können hier gar nichts machen, alles wäre total gefährlich wegen Israel - und wegen den Hamas-Leuten überall." So war also auch ein kleines in der Sonne herumspringendes nacktes Mädchen eine existenzielle Bedrohung für die Gesellschaft.

Die Sonne ging unter und ich ging auf das Dach, sog das trockene Gelbgrün der Gärten und Olivenhaine ein und rauchte traurig meine Schachtel Zigaretten auf. Die größeren Mädchen brachten mir mit größter Freundlichkeit leckeren mit Kardamon gewürzten Kaffee und schenkten mir glücksbringende schneckenförmige Früchte von Kräutern. Die zehnjährige Hala war irgendwie ganz verliebt in mich. Ich war für die Zeit meines Besuchs eine Art Tor zur Welt. Ich fragte sie, was sie einmal werden wolle. "Ärztin" sagte sie.

Yafa war inzwischen eingeschlafen. Aber dann wachte sie wieder auf und schrie, halb schlafend weiter.